Lieber Herr Dr. Blume,

August 24th, 2008

vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort auf meine nicht weniger langen Ausführungen, die mit einem lächerlichen Zitat Ihrerseits begannen.

Sie hatten in Ihrem Ursprungspost einen Rabbi angeführt, der meinte, wenn man “G-tt” (hübsch auch dieser bigotte Versuch der Vermeidung jeder Benennung) nur anbeten wolle, wenn man ihn mit seinen Sinnen wahrnehmen könne, dann käme dies der Anbetung eines Götzen gleich.

Es ist natürlich offensichtlich, dass das Unsinn ist. Ob ich meine Frau, die tatsächlich existiert, oder ein Bildnis irgendeiner Frau anbete, ist ein unübersehbarer Unterschied. Und jeder vernünftige Mensch würde von mir z.B. Beweise dafür verlangen, dass seine Frau von mir schwanger ist, er selbst Krebs im Endstadium hat und 2.000.000 $ Schulden.

BEWEISE.

Warum werden keine Beweise für so weitreichende Dinge, wie bestimmte Grundlagen moralisch-ethischer Entscheidungen gefordert? Warum werden keine Beweise für die Nützlichkeit der Ausgabe von Millionen von Steuergeldern für die Besoldung von Kirchenpersonal gesucht? Warum keine Beweise für die Grundlagen des staatlichen Religionsunterrichts?

Und wie ist das übrigens mit den 100 Euro, die Sie mir schulden?

Sie sehen, ich spreche Sie nicht nur als Religionswissenschaftler an, sondern auch als gläubigen Menschen, der Sie ja offenbar sind. Sie sind ein verbindlicher, eloquenter, gebildeter und engagierter Vertreter Ihrer Weltanschauung, die Sie mit Milliarden anderen teilen. Und deshalb sind Sie ein geeigneter Gegenüber.

Denn ich führe diesen Dialog – ja Dialog – weil ich verstehen will, wie man angesichts solcher Verbrechen wie religiös bedingtem Terrorismus und Bürgerkrieg (heute z.B. 11. September, Irak, Afghanistan, Israel, Nordirland, Kosovo, Tschetschenien, Sri Lanka, Pakistan, Nigeria, Saudi-Arabien, Jemen; früher z.B. : Hugenottenkrieg, Achtzigjähriger Krieg, Englischer Bürgerkrieg, Dreißigjähriger Krieg usw.), Inquisition; Hexenverfolgung; Judenpogrome; Massenvernichtung von Ureinwohnern; Kreuzzüge; Sekten; Gehirnwäsche; Frauendiskriminierung; Mißbrauch von Abhängigen; Exorzismus; Ermordung von Abtreibungsärzten; gewaltsame Missionierung; Quacksalberei; Diskriminierung Anders- oder Nichtgläubiger; Einschränkung von Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit; Antiwissenschaftlichkeit; Psychische Störungen durch Glaube an angeborene Sünden, Hölle und ewige Verdammnis, Engel und Geister; Gesundheitsschäden durch Mangelernährung, religiös bedingte Diäten, Verweigerung medizinischer Betreuung, Selbstverstümmelung und angebliche Geist- oder Wunderheilung; Schwulenhass, Steinigung; Beschneidung der Geschlechtsteile männlicher und weiblicher Kinder; Massenselbstmorde; Giftgasattentate; Staatliche Indoktrination; Feudalismus, Bestrafung von “Gotteslästerung”, “Sakrilegen” und “Blasphemie” und der massive Einflussnahme religiöser Fundamentalisten in Staat und Gesellschaft – wie man also angesichts solcher Dinge, noch ernsthaft einer Gemeinschaft angehören will, die so etwas propagiert.

Sie wären potentiell dazu in der Lage, zu erklären, warum der Glaube an übernatürliche Wesen in unserem Staat eine Sonderstellung einnehmen darf. Warum Kindern in der Schule erzählt wird, dass es Wunder und Engel gibt. Und warum wir uns vor religiös bedingtem Wahn fürchten müssen.

Außerdem sind Sie publizistisch tätig. Weil auch Sie verstehen wollen, was das mit der Religion eigentlich soll. Und Sie haben ein Ziel. Sie wollen zeigen, dass Religiosität eine nützliche(!), wenn nicht sogar gute Komponente menschlicher Gesellschaften ist.

Sie gehen sogar so weit, zeigen zu wollen, dass Religiosität ein Evolutionsvorteil ist, dass Atheismus also im Prinzip Stück für Stück ausgemendelt wird.

Ach nein, soweit würden Sie wahrscheinlich gar nicht gehen wollen. Sie sind schließlich Wissenschaftler.

Aber gerade als Wissenschaftler sollten Sie ja verstehen, dass ein Phänomen wie Religiosität viel zu komplex ist, als dass man hier einen Evolutionsvor- oder Nachteil ausmachen könnte.

Allein die Schwierigkeit Religiosität oder den Glauben an einen „Gott“ zu definieren ist schon sehr, sehr schwer. Und da wollen Sie zeigen, dass Religiosität vererbt wird?

Und wie ist das mit der ehemaligen DDR? Hier behaupten 70% der Einwohner nicht an einen Gott zu glauben. Wenn der Glaube an Übernatürliches vererbt wird, wo ist der Glaube hin?

Sie sind zahlendes Mitglied einer Gemeinschaft mit einer Mission: Beweise für die Richtigkeit des eigenen Tuns zu finden. Auch wenn man dafür Kröten schlucken muss, wie die, dass der ganze Kreuzigungshokuspokus völlig überflüssig war.

Keine Schöpfung, keine Sünde, kein Opfer, keine “Erlösung”.

Vorausgesetzt man versteht die Bibel wörtlich, was Sie als aufgeklärter Christ natürlich nicht tun. Für Sie ist die Bibel wahrscheinlich von vorn bis hinten metaphorisch zu verstehen. Die Schöpfung – metaphorisch, Adam und Eva – metaphorisch, Sintflut, Kain und Abel, Stammbäume und Kriegszüge, Gesetze und Regeln, Jesus’ Kreuzigung, Auferstehung, Himmelfahrt – metaphorisch, Jesus’ Gleichnisse metaphorische Metaphern, Genozid, Atheistenhass, Gewalt- und Autoritätsverherrlichung in der Bibel – alles nur metaphorisch.

Da es keine Beweise für die Richtigkeit irgendeiner willkürlichen Deutung dieser angeblich heiligen Schrift gibt, gibt es auch Millionen von Interpretationen, die zu Hass, Gewalt, Mord ja sogar Weltuntergang aufrufen. Ja, genau. Aufrufen. Zum expliziten Herstellen des Weltuntergangs. Wenn man glaubt, dass die Zeit gekommen ist, kann man ja ein bisschen nachhelfen.

Wenn Sie denken, dass Leute, die vom Weltuntergang faseln in der Minderheit sind, dann werfen Sie einen Blick in die evangelikalen Megakirchen der USA. In denen wird der Hass auf den Islam und den Atheismus gepredigt. Wird darüber fabuliert, dass man sich für den Endkampf rüsten muss

Aber wir schweifen ab. Wir waren ja bei all dem Bösen, das der Atheismus über die Welt gebracht hat. Da unser Dialog schon ein wenig ausufert, will ich ihn zur besseren Lesbarkeit ein wenig systematisieren. Damit auch der geneigte Mitleser den Überblick nicht verliert. Streifen wir doch ganz wesentliche Bereiche des Streits um die zerstörerische Wirkung der Religion.

Und da es so viele unterschiedliche Fragen sind, die wir aufgeworfen haben, möchte ich auch nicht gleich alle auf einmal bearbeiten, sondern mir Tag für Tag eine andere vornehmen.

Die Themen sind also:

1. Ist der Atheismus eine komplexe Weltanschauung, also eine Quasireligion?
2. Sind religiöse Menschen in kommunistischen Regimen ihrer Religion wegen verfolgt worden oder weil sie politisch anderer Ansicht waren.
3. Ist Religionskritik gefährlicher und angsteinflößender als die Verfolgung politisch andersdenkender als „Beiprodukte“ kommunistischer Diktatur?
4. War der Atheismus je Legitimation von Diktatur?
5. Gibt es einen Unterschied zwischen staatlich gelenkten Repressionen gegen Andersdenkende (also von Oben nach Unten) und Todesdrohungen von Privatleuten (also Unten nach Oben)?
6. Ist Atheismus missionarisch?
7. Ist Religion so etwas wie Musik? Hat Musik soviel Opfer zu beklagen wie die Religion.
8. Würde ein weltweit geltender Atheismus und Naturalismus bedeuten, dass es keine moralischen Grenzen und Werte gibt?
9. Ist der Glaube an eine übernatürliche Person wie einen Gott ein Garant für moralisch richtiges Tun?
10. Ist der „Evolutionserfolg“ auf Seiten der Religiösen? Oder ist Religiosität ein hochkomplexes Phänomen psycho-sozialer Provenienz, dass sich hervorragend ohne die objektiv-reale Existenz von Übernatürlichem erklären läßt.
11. Was ist der Unterschied zwischen dem Konzept der Menschenwürde und dem Konzept übernatürlicher Wesen? Oder, was ist der Unterschied zwischen einer sozialen Konvention und einem Wunder?

Ich werde also in den nächsten Wochen versuchen, diese Fragen zu bearbeiten. Ich werde nicht immer Zeit finden und sicher auch oft die Lust verlieren – oder dieses Projekt möglicherweise ganz abbrechen. Aber ich will es wenigstens versuchen.

So möchte ich denn Ihr Kompliment zurückgeben und mich zunächst verabschieden.

Sie hören von mir.

Und vergessen Sie bitte meine 100 Euro nicht!

10 Responses to “Lieber Herr Dr. Blume,”

  1. Michael Blume Says:

    Lieber sapere aude,

    gerne greife ich Ihre zentralen Anfragen heraus und versuche mich an kurzen Antworten. Vielleicht sollten wir uns auf eher kurze Texte einigen – bei langen geht zuviel Inhalt verloren und auch für die anderen Leser ist es kaum schaffbar.

    Sie fragten:

    “Sie wären potentiell dazu in der Lage, zu erklären, warum der Glaube an übernatürliche Wesen in unserem Staat eine Sonderstellung einnehmen darf.”

    Selbstverständlich. Wir haben religiöse Vergemeinschaftungen und Institutionen schon Jahrzehntausende vor jeder Staatlichkeit – und nie gab es eine Menschengesellschaft ohne Religion (ohne Staat gibt es sie auch heute noch). Das heißt übrigens nicht, dass alle Staat-Kirchen-Verflechtungen positiv wirken müssen. Es ist kein Zufall, dass die Religiosität in den USA besonders stark ausgeprägt ist – wo es keinerlei staatliche Finanzmittel für Kirchen und Religionen, dafür einen pluralen Wettbewerb gibt. Falls Sie das Thema weiter interessiert, hier:

    http://www.kas.de/wf/doc/kas_13362-544-1-30.pdf

    “Warum Kindern in der Schule erzählt wird, dass es Wunder und Engel gibt. Und warum wir uns vor religiös bedingtem Wahn fürchten müssen.”

    Siehe oben. Und vor religiösem Wahn brauchen wir uns m.E. nicht mehr fürchten als vor jedem anderen.

    “Außerdem sind Sie publizistisch tätig. Weil auch Sie verstehen wollen, was das mit der Religion eigentlich soll. Und Sie haben ein Ziel. Sie wollen zeigen, dass Religiosität eine nützliche(!), wenn nicht sogar gute Komponente menschlicher Gesellschaften ist.”

    Einspruch: Ich wollte und will Religiosität und Religionen schlicht wissenschaftlich verstehen und beschreiben. Und ihre Entstehung im Rahmen der Evolution untersuchen. Dass die Befunde so stark waren und sind, hat mich selbst überrascht und überrascht mich auch weiterhin. Um bewusste oder auch vorbewusste Einseitigkeiten der Perspektiven zu vermeiden, plädiere ich übrigens ausdrücklich für die Zusammenarbeit religiöser, agnostischer und atheistischer Kolleginnen und Kollegen gerade in diesem Forschungsbereich! Siehe ggf. hier:
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/pdf/BlumeWahreNaturwissenschaftlerAtheistenWeingarten0608.pdf

    “Sie gehen sogar so weit, zeigen zu wollen, dass Religiosität ein Evolutionsvorteil ist, dass Atheismus also im Prinzip Stück für Stück ausgemendelt wird.”

    Ich hoffe doch, Sie erwarten nicht von mir, wissenschaftliche Befunde zurück zu halten, weil sie einigen nicht in die Weltanschauung passen? Und halten wir doch einfach einmal ganz sachlich fest:

    1. Befunde, die auf religiöses Verhalten schließen lassen, kennen wir bislang lediglich von Homo Sapiens und Homo Neanderthalensis, beginnend mit einfachen Bestattungen seit der mittleren Altsteinzeit. Seitdem hat dieses Verhaltensmerkmal innerhalb weniger tausend Generationen schnell an Umfang und Komplexität zugenommen und ist heute eine menschliche Universalie.

    2. Auch heute stellen wir fest, dass sich weltweit und insbesondere in den freiheitlicheren, wohlhabenderen Gesellschaften religiöse Populationen deutlich erfolgreicher fortpflanzen als säkulare. Sowohl empirische Daten wie auch Fallstudien deuten also darauf hin, dass das Merkmal Religiosität nicht nur bisher erfolgreich evolvierte, sondern auch weiter evolviert.

    Das ist schlicht der evolutionshistorische und demografische Befund – und ich würde ihn gerne auch weiterhin wissenschaftlich, nicht ideologisch diskutieren.

    “Aber gerade als Wissenschaftler sollten Sie ja verstehen, dass ein Phänomen wie Religiosität viel zu komplex ist, als dass man hier einen Evolutionsvor- oder Nachteil ausmachen könnte.”

    Schon Charles Darwin war anderer Meinung und hielt Religiosität ebenfalls für ein evolutiv entstandenes und erfolgreiches Merkmal. Und warum sollten wir Wissenschaftler von vornherein aufhören, komplexe Phänomene wie Musik, Politik oder eben auch Religion zu erforschen und zu beschreiben? Wie es aussieht, finden wir doch viel Spannendes dabei heraus! Lassen Sie uns doch Wissenschaft betreiben und schauen, wie weit wir kommen!

    Und den Reproduktionsvorteil “behaupte” ich ja nicht nur, wir messen ihn in inzwischen Dutzenden unabhängigen Studien (sowohl empirischen Erhebungen wie Fallstudien) mit unterschiedlichsten Gruppen und Perspektiven in unterschiedlichen Ländern.

    “Allein die Schwierigkeit Religiosität oder den Glauben an einen „Gott“ zu definieren ist schon sehr, sehr schwer.”

    Klar. Es gibt auch keine eindeutigen Definitionen von Musik, Mathematik, Politik etc. – denn Sprache nähert sich Wirklichkeiten immer nur an. Ich arbeite, auf Darwin aufbauend, mit der Arbeitsdefinition, wonach Religiosität “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” umfasst. Und ist es denn nicht auch für Sie faszinierend, dass empirisch nicht nachweisbare Akteure (Ahnen, Götter, Gott) solche nachweisbaren Verhaltensauswirkungen haben können?

    “Und da wollen Sie zeigen, dass Religiosität vererbt wird?”

    Was denn sonst? Unsere gesamten Verhaltensmerkmale sind in Gehirn und Genen veranlagt und werden dann soziokulturell ausgeprägt. Es wäre eine Sensation und würde im Übrigen auch den naturalistischen Monismus sprengen, wenn es menschliche Universalien ohne biologische Grundlage geben würde. Und die Vererbbarkeit behaupte ja nicht nur ich, sie ergibt sich auch aus den Befunden der Zwillingsforschung – ganz genau so, wie zu Musikalität, Intelligenz usw. auch. Siehe z.B. (mit Link zu Studienartikel) hier:
    http://www.wissenslogs.de/wblogs/blog/natur-des-glaubens/grundlagen/2008-03-16/gene-f-r-glauben-neues-aus-der-verhaltensgenetik

    “Und wie ist das mit der ehemaligen DDR? Hier behaupten 70% der Einwohner nicht an einen Gott zu glauben. Wenn der Glaube an Übernatürliches vererbt wird, wo ist der Glaube hin?”

    Hier haben sozialistisch-atheistische, totalitäre Regime den Traditionsstrom der Familien erfolgreich gekappt – ebenso, wie sich z.B. Musikalität nur noch sehr eingeschränkt entfalten kann und Musikkulturen nur sehr langsam erholen, wenn die musikalische Förderung abwürgt und musikalische Betätigung bei Strafe untersagt. Es wird lange, vielleicht Jahrhunderte, dauern, bis der religiös-kulturelle Kahlschlag überwunden ist und blühende Religionskulturen nachgewachsen sind. Den reproduktiven Unterschied zwischen Religiösen und Säkularen aber messen wir natürlich heute schon auch in den ostdeutschen und osteuropäischen Regionen (dazu gibt es eine eigene Studie, Beitrag dazu mache ich bei Gelegenheit).

    “Sie sind zahlendes Mitglied einer Gemeinschaft mit einer Mission: Beweise für die Richtigkeit des eigenen Tuns zu finden.”

    Ganz unter uns: Mein missionarischer Impuls scheint weniger ausgeprägt zu sein als Ihrer. Sehen wir es doch einfach mal mit Humor: Wenn morgen alle Menschen religiös würden und genau das gleiche glauben würden, hätten sich meine Daten zum Zusammenhang von religiöser Vergemeinschaftung und Demografie wohl schnell erledigt. 😉 Sie dürfen also ganz sicher sein, dass ich z.B. Ihren Atheismus völlig respektiere – als Teil einer bunten Welt und vielfältigen Menschengesellschaft im Prozess faszinerender biokultureller Evolution.

    Mit herzlichen Grüßen

    Michael Blume

  2. sapere Says:

    Lieber Herr Dr. Blume,

    vielen Dank für Ihre schnelle Antwort.

    Sie definieren Religion also für sich als:

    “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren”

    Das wäre eine Definition auf die man sich einigen könnte, wenn Sie sich in Ihren sonstigen Anmerkungen nicht so äußern würden, als sei Religion für Sie gleichbedeutend mit Kultur, wenn selbst Begräbnisriten, Mathematik, Politik und Musik als Vergleichsbeispiele religiöser Praxis herhalten müssen. Sollten Sie Religion also als Kultur definieren und auf dieser Definition beharren, dann können wir unsere Diskussion hier abbrechen.

    Wir sollten also meiner Ansicht nach nicht über kulturelle Praktiken sprechen, die Schlüsselereignisse des Lebens betreffen, wie Geburts-, Initiations-, Heirats- und Begräbnisriten, womit natürlich auch atheistische Gesellschaften dienen können, sondern über alle Überzeugungen zur Einwirkung übernatürlicher Wesen, vor allem von Göttern.

    Ich möchte also keine Diskussion über per se wertfreie menschliche Kultur und religiöse Praxis im Allgemeinen führen, sondern eine Diskussion zu einer bestimmten Ausprägung dieser Kultur, zu der äußerst folgenschweren Überzeugung der Existenz und des Eingreifens eines oder mehrer übernatürlicher, vorzugsweise männlicher Wesen in unsere reale Welt, u.a. als Folge von Gebeten oder sonstigen rituellen Handlungen – oder auch unabhängig davon.

    Insbesondere geht es mir auch um die individuell-psychischen und soziokulturellen Auswirkungen einer monotheistischen Religion – Stichwort: Mosaische Unterscheidung.

    Wenn Sie also schreiben, dass wir religiöse Vergemeinschaftungen und Institutionen schon Jahrzehntausende vor jeder Staatlichkeit hatten und haben, und damit wie oben beschrieben Schlüsselriten meinen, dann kann man dem Ihre Gültigkeit nicht absprechen.

    Aber wie ich schon schrieb, meine Frage war nicht die nach Riten im Allgemeinen, sondern nach abergläubischen Riten, v.a. bezogen auf einen unsichtbaren Mann.

    Dass für Sie Theismus und religiöse Praxis identisch sind, kann ich mir allerdings nicht vorstellen – auch wenn Sie diese Begriffe in Ihrer Argumentation durcheinanderwirbeln.

    Insofern erübrigen sich zunächst auch Antworten meinerseits auf Ihre Bemerkungen. Da wir offenbar von einem unterschiedlichen Religionsbegriff ausgegangen sind.

    Sie fragen mich, ob es „denn nicht auch für Sie faszinierend (sei), dass empirisch nicht nachweisbare Akteure (Ahnen, Götter, Gott) solche nachweisbaren Verhaltensauswirkungen haben können?“

    Und u.a. auch hier sehen wir einen fundamentalen Verständnisunterschied. Sie gehen davon aus, dass, wenn angebliche übernatürliche Akteure schon naturwissenschaftlich nicht nachweisbar sind, agieren sie wenigstens durch die Menschen, die an sie glauben – oder auch nicht glauben. Dass hier eine Vielzahl psychischer Phänomene am Werk sind, ziehen Sie sicher in Betracht, verwerfen diese Hypothese aber offenbar – in mindestens einem Fall – zugunsten der wesentlich leichter verstehbaren, nämlich der Einwirkung eines oder mehrerer Götter.

    Sie wollen zeigen, dass Religiosität vererbt wird und – was noch viel interessanter ist, einen Evolutionsvorteil darstellt. Wenn Religion für Sie gleichbedeutend mit Kultur ist, sind wir uns vollkommen einig. Da Sie allerdings bereits eine andere Definition angeboten haben, so halte ich den Glauben an die Einwirkung übernatürlicher Wesen nicht für vererbar. Genausowenig wie den Glauben an Astrologie, Tarot, Schwarze Katzen oder Vierblättrige Kleeblätter.

    Ahnenkult ist möglicherweise ein sehr weit verbreitetes Phänomen – vielleicht sogar ein unvermeidliches. Ein Evolutionsvorteil ist der Glaube an eine unsterbliche Seele und an übernatürliche Akteure allerdings sicher nicht. Ganz wie viele Kollegen sehe ich es eher als Beiprodukt und Zwischenschritt der zunehmenden Fortentwicklung unseres Denkvermögens, so nützlich wie der Blinddarm wohl einst gewesen sein muss. Insofern sind Sie in Ihrem Glauben ein erfreuliches Relikt der zunehmenden Weiterentwicklung menschlichen Erkenntnisvermögens.

    Ein wenig erschreckend finde ich übrigens Ihre Phantasie von den „blühenden Religionskulturen“, wie Sie sich sicherlich denken können. Offenbar gibt es für Sie keine richtige Kultur in der falschen. Menschen, die im Bereich der ehemaligen DDR leben und ausgesprochen zufrieden mit ihrem Atheismus sind – die jüngeren natürlich noch weit mehr als die Alten – sind in Ihren Augen offenbar bedauernswerte kulturelle Kretins in einer betonschweren sinn- und wertlosen Ödnis. Wie sonst würde sich Ihre Hoffnung erklären, dass die religiöse Kultur in den Neuen Bundesländern wieder blühen möge?

    Ich bin in den neuen Bundesländern aufgewachsen. Und ich bin bereits mindestens in der dritten Generation Atheist – wie meine Frau. Glauben Sie, dass wir unglücklicher sind als Sie?
    Dass uns unsere Familien weniger Kultur, weniger Werte und weniger Sinn vermittelt haben? Glauben Sie, dass zu einem vernünftigen, wertvollen und guten Leben mit gegenseitiger Achtung und Hilfsbereitschaft, Wärme, Herzlichkeit und Ehrlichkeit der Glaube an übernatürliche Akteure vonnöten ist?

    Sie haben mit ihrer Bewertung der Menschen in den neuen Bundesländern übrigens noch nicht erklärt, wie es sein kann, dass 70-80% nicht an übernatürliche Wesen glauben, wenn das Phänomen vererbt wird. Wenn es vererbt wird, dürfte es durch eine Kulturrevolution nicht
    ausrottbar sein.

    Und Sie haben sich im Prinzip selbst verraten: Sie sprechen von einem „gekappten Traditionsstrom“. Und richtig. Der Aberglaube an übernatürliche Wesen ist tradiertes Phänomen, kein angeborenes.

    Noch ein zwei Sätze zu unserem jeweiligen missionarischen Impuls.

    Meine Mission ist sofort beendet, wenn die Ihre beendet ist. Doch leider ist die Ihre niemals zuende.

  3. Michael Blume Says:

    Lieber sapere aude,

    also, zunächst einmal: Religion und Kultur halte ich nicht für identisch – auch Primaten und Frühmenschen zeigen z.B. kulturelles Verhalten (z.B. Werkzeuggebrauch, der natürlich ebenfalls tradiert wird), aber eben (noch) kein religiöses. Die Bestattungen gelten als erste, fassbare Bezüge, weil sie darauf hindeuten, dass den Toten eine übernatürliche Existenz zugestanden wird, die rituell zu begleiten ist (auch z.B. mit Beigaben u.ä.). Ahnen und Geister spielen auch heute noch in den Glaubenssystemen von Wildbeutern und frühen Agrarvölkern bestimmende Rollen.

    Und, nein, zur Erklärung des Evolutionsvorteils von Religiosität setze ich eben kein übernatürliches Eingreifen voraus, sondern beschreibe es naturalistisch: als biokulturelles Verhaltensmerkmal wie Musik, Mathematik etc. auch. Auch zu dieser sind wir nur aufgrund unserer genetischen und dann neurobiologischen Veranlagung befähigt, erlernen sie aber in konkreten Traditionen (oder sehen Sie das ernsthaft anders???). Und natürlich verknüpfen sich alle Kulturmerkmale untereinander, wir haben z.B. religiöse und politische Musik, obwohl wir Religion, Politik und Musik natürlich unterscheiden.

    Aus nichtreligiösen Familien aus den neuen Bundesländern stammen wir übrigens beide und schon deshalb kann ich Ihrer Annahme, ich würde Ostdeutsche oder Nichtreligiöse als “kulturelle Kretins” betrachten, nur entschieden widersprechen. Erstens werden auch in atheistischen Familien vielfältige Traditionen weitergegeben – angefangen von der Sprache über soziale Verhaltensnormen, Musik, politische Einstellungen etc. Nur hat eben das DDR-Regime bestimmte, u.a. religiöse Traditionsströme gezielt gekappt und damit gewachsene Kultur(en) zerstört – und diese lassen sich nicht auf Knopfdruck wieder herstellen. (Dass das Ende der Diktatur sowohl in Polen wie in der DDR maßgeblich auch aus den Resten der Kirchenbewegungen heraus erreicht wurde, gehört m.E. übrigens zu den Beispielen freiheitlichen Wirkens von Religionen.)

    Da sowohl der reproduktive Vorteil von Religiosität auch in Ostdeutschland zu beobachten ist und wir eine Blüte auch von konfessionellen Bildungseinrichtungen u.ä. haben, ist m.E. davon auszugehen, dass auch in Ostdeutschland und Osteuropa mittel- und längerfristig ein Wiedererwachen von Religiosität und Religionskulturen geben dürfte. Mir ist noch keine Menschengesellschaft bekannt, die unter freiheitlichen Bedingungen dauerhaft atheistisch geprägt geblieben wäre.

    Und zu Angeborenheit religiöser Glaubenspräferenzen: Völlig entsprechend zur Musikalität kommt es natürlich immer auch auf die soziokulturelle Ausprägung an, klar. Aber wir haben ja nicht nur die Genstudien zur Religiosität, sondern auch Geschlechterunterschiede in Glaubenspräferenzen etwa bezüglich der Gottheit, Wundern oder auch Außerirdischen, die genau zum evolutionsbiologischen Modell passen, siehe hier:
    http://www.wissenslogs.de/wblogs/blog/natur-des-glaubens/gretchenfrage/2008-04-04/gretchenfrage-sind-religi-se-frauen-dumm

    Die empirischen Daten müssen Ihnen ja nicht gefallen, aber wenn Sie hier wissenschaftlich argumentieren wollen, hilft ein Ausblenden unliebsamer Befunde nicht wirklich weiter.

    Wenn Sie, was ich doch hoffe, wie ich davon ausgehen, dass das gesamte menschliche Gehirn einschließlich aller Erfahrungs- und Verhaltensfähigkeiten und -präferenzen durch Evolution geprägt wurde, ergibt sich nicht, wie irgendeine Form der Tradition (Sprache, Musik, oder eben Religion) ohne biologische Basis bestehen könnte. Und Religiosität ist ja in den letzten paar tausend Generationen nicht nur bestanden, sondern erblüht. Und tut es, siehe den reproduktiven Vergleich, schlicht weiterhin.

    Meine “Mission” hier ist die (evolutionäre) Religionswissenschaft und ich habe tatsächlich nicht vor, diese einzustellen. Und ich bin froh und dankbar, in einer Gesellschaft zu leben, in der mir das niemand mehr aus ideologischen Gründen untersagen kann. Ich gehe doch fest davon aus, Sie auch.

    Mit herzlichen Grüßen

    Michael Blume

  4. Freddy Says:

    Ich habe alles mit sehr großem Interesse gelesen, gespeichert, und werde es bei Zeiten auch vernünftig verarbeiten.

    Nur soviel von meiner Seite: Wie auch immer man es betrachtet, entweder man glaubt oder eben nicht. Eine Religion, die Ungläubigen die Hölle prophezeit, beißt sich allerdings in den eigenen Schwanz, weil sie sich Allgemeingültigkeit auf den Weg gibt. Netterweise ist das Christentum derart tolerant geworden, dass […warum weiterschreiben wenn das Weitere eindeutig ist…]
    Zurück: Es ist nicht nur der Glaube an Gott, sondern der Glaube an (uU) die Bibel, die Kirche, die Prediger, die Gläubigen, […].
    Wissenschaftliches, empririsches Arbeiten ist also AUSSCHLIESSLICH bezüglich der gesellschaftlichen (politischen, kulturellen) Konsequenzen möglich. Das habt ihr aber beide mehr oder weniger gut hinbekommen, mit einem inhaltlich weitaus fundierterem Wissen als ich es bis jetzt aufbringen könnte. Mehr oder weniger, schließlich werden hier gelegentlich Urteile gefällt, die ebenso Allgemeingültigkeit beanspruchen.

    Nunja, eigentlich will ich nur “danke” sagen.

    Mit besten Grüßen,
    ein agnostischer Student der Soziologie.

  5. sapere Says:

    Lieber Herr Dr. Blume
    Sie schreiben:

    “also, zunächst einmal: Religion und Kultur halte ich nicht für identisch.“

    Dann sind wir uns also einig, dass der Glaube an Übernatürliches nicht mit Kultur zu verwechseln ist. Es mag ein Bestandteil der Weltkultur sein, aber natürlich nur einer von vielen.

    Sie vergleichen “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” in Ihren Antworten häufig mit bedeutenden Kulturleistungen wie Musik oder Mathematik. Ich finde, Sie tun diesen beiden Disziplinen erhebliches Unrecht. Noch kein Mensch hat sich mit den Worten „Es lebe Johann Sebastian Bach oder Pythagoras“ selbst geopfert und andere mit in den Tod gerissen (übrigens genausowenig Menschen, wie mit den Worten „ Es lebe Ludwig Feuerbach“ in den Märtyrertod gegangen sind). Ich würde es deshalb vorziehen “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” mit der Kulturleistung des Rauschgiftgenusses zu vergleichen. Denn was ist Religiosität anderes. Die Freude über eine Illusion. Manchmal gefährlich, sogar lebensgefährlich für manche Menschen (was man von Musik oder Mathematik nicht behaupten kann) aber für die meisten Menschen ein Genußmittel.

    Sie werden einwenden, auch Mathamatik kann natürlich auch gefährlich werden. Aber bitte, beachten Sie, bevor Sie dieses Argument einbringen, doch die Ebenen. In keinem mathematischen Satz steht irgendetwas von Gewalt gegen Personen, in keinem einzigen Ton ist Gewalt zu finden (auch wenn so manche Lieder vor Gewalt strotzen – aber das ist ja schon Sprache). Die Tora, die Bibel und der Koran dagegen enthalten hunderte Aufforderungen zu und Rechtfertigungen von Gewalt, Völkermord, Fremdenhass, Sklaverei und Folter.

    Hat man schon erlebt, dass Anhänger einer bestimmten mathematischen Schule mit Gewalt aufeinander losgegangen sind? Die Anhänger einer bestimmten Musik?

    Sie wollen nicht über Gewalt diskutieren? Und ich sage Ihnen auch warum. Weil Gewalt zum Glauben an übernatürliche Akteure gehört. Vor allem wenn sie sich selbst als einzigartig bezeichnen.

    Die Gewalt und der Irrsinn des “Glaubens an und des Verhaltens zu übernatürlichen Akteuren” ist keine Ausnahme. Das sind Millionen von Menschen, die an den Lippen eines Fernsehpredigers hängen, der angeblich mit dem Geist Jesus Christus’ heilen kann. Da sind Millionen Menschen, die einem bestimmten Präsidentschaftskandidaten ihre Stimme geben, weil er gegen Abtreibung und Homosexualität steht und Menschen als spirituelle und moralische Führer bezeichnet, die zur rücksichtslosen Vernichtung eines anderen Glaubens aufrufen – Prediger einer Massenkirche mit Millionen (Gläubigen).

    „Dass das Ende der Diktatur sowohl in Polen wie in der DDR maßgeblich auch aus den Resten der Kirchenbewegungen heraus erreicht wurde, gehört m.E. übrigens zu den Beispielen freiheitlichen Wirkens von Religionen.“

    Sie schreiben „auch“. Das ist sehr fein beobachtet. Die hundertausende von Menschen, die auf Leipzigs Straßen für ihre Freiheit demonstrierten waren mehrheitlich keine Christen, sondern Atheisten. Die friedliche Opposition war eine erstaunliche Graswurzelbewegung, deren christlicher Anteil von Christen gern deutlich überschätzt wird. Und welche Rolle der Vatikan im Polen spielte ist eine Geschichte, die ihrer Aufarbeitung harrt. .

    Da Sie hier marginal erfreuliche Folgen von Religionen ansprechen, nehme ich mir das Recht heraus, auch die unerfreulichen zu erwähnen. Und an diesen Beispielen sehen Sie, weswegen kommunistische Regime Kirchen bekämpft haben: Weil sie in anders dogmatischen Gesellschaftsformen eine Parallelgesellschaft schaffen, die einer Diktatur nicht wirklich recht sein kann, es sei denn, diese Paralellgesellschaft ordnet sich unter, wie das im Dritten Reich geschah. Aber da der Kommunismus schon immer zu den Erzfeinden des papistischen Feudalismus gehörte, war er den Kommunisten ein Dorn im Auge. Gläubige sind nicht verfolgt worden, weil sie Gläubige waren, sondern weil sie die „Wir schaffen den neuen Menschen“-Spielchen nicht mitspielen wollten. Ein Phänomen übrigens, dass uns von dem “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” schon hinlänglch bekannt ist.

    Wenn Sie also glauben, mit “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” könnten Sie Kommunismus oder Faschismus bekämpfen, glauben Sie, dass Sie den Teufel mit dem Beelzebub austreiben können.

    Ihr behaupteter Reproduktionvorteil von “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” ist die schiere Quantität. Was Sie nicht bedenken, ist die Qualtität, dieser „Evolution“. Aber das soll zu einem anderen Zeitpunkt diskutiert werden.

    Als in Beispiel für eine freiheitliche Kultur die schon lange und zunehmend atheistisch geprägt ist, möchte ich Ihnen die skandinavischen Regionen vorschlagen.

    Ihre „empirischen Daten“, die Sie sich aus irgendwelchen Massenerhebungen zusammenklauben und wild interpretieren, sind mir durchaus liebsam. Ich werde mich dazu auch noch äußern.

    Zusammenfassend können wir konstatieren, dass “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” sich glücklicherweise zunehmend selbst diskreditiert. Eigentlich müßten sich rationalistische Naturalisten nur zurücklehnen und abwarten – das Problem erledigt sich wahrscheinlich am Ende von selbst. Ich fürchte nur, ich werde es wohl trotzdem nicht mehr erleben.

    In einem sind wir uns allerdings einig, in einer freiheitlichen Gesellschaft zu leben, in der wir durch keinerlei ideologische Zwänge, seien es jüdische, christliche, muslimische, faschistische, kommunistische oder sonstwie diktatorische, gezwungen sind, unsere Meinung zu verheimlichen, ist ein wahres Glück

  6. Michael Blume Says:

    Was diskutieren wir?
    Lieber sapere aude,

    ich bin mir immer noch nicht schlüssig, über was Sie mit mir diskutieren wollen. Dass Sie Religion ablehnen, nehme ich gerne zur Kenntnis.

    Religiosität ist evolvierter Teil der menschlichen Natur wie Musikalität oder mathematische Fähigkeiten, genau. Und selbstverständlich hatten alle (auch atheistischen) Bewegungen auch ihre Lieder und Hymnen, mit denen sie die eigene Gemeinschaft festigten und andere herabsetzten, ja zum Hass aufstachelten. Und die Mathematik (die übrigens von Pythagoras über die Kabbala bis Newton meist als auch religiöse Disziplin betrieben wurde) diente den Menschen vom Bau stabiler Brücken bis zur Konstruktion von Atomwaffen. Es gibt kein menschliches Merkmal, dass nicht auch für Zwecke von Hass und Gewalt gebraucht wurde.

    Die Frage ist also einfach nur, ob Sie daran interessiert sind, Religiosität auch als Teil der menschlichen Evolutionsgeschichte zu verstehen, oder ob Sie sich mit Polemik begnügen wollen. Diese Frage müssen Sie sich selbst beantworten und ich bin immer wieder überrascht, wie viele vermeintlich rationale Menschen dann doch von Wissenschaft nichts mehr wissen wollen, sobald sie den eigenen Vorurteilen widerspricht.

    “Dann sind wir uns also einig, dass der Glaube an Übernatürliches nicht mit Kultur zu verwechseln ist. Es mag ein Bestandteil der Weltkultur sein, aber natürlich nur einer von vielen.”

    Exakt. Soweit wir wissen, sehr spät entstanden (wahrscheinlich erst Altsteinzeit) und dann von enormen, reproduktiven Erfolg.

    “Ich würde es deshalb vorziehen “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” mit der Kulturleistung des Rauschgiftgenusses zu vergleichen.”

    Lieber sapere aude, es ist schön, dass Sie uns Ihre ästhetischen Urteile (…würde es deshalb vorziehen…) mitteilen – nur diskutieren wir dann eben nicht über Wissenschaft. Religiös vergemeinschaftete Menschen bekennen sich im Durchschnitt häufiger zu gesellschaftlich akzeptierten Regeln, heiraten häufiger und stabiler und haben mehr Kinder. Bewußtseinsverändernde Substanzen (Weihrauch, Wein, Peyote etc.) spielen in vielen Religionskulturen eine Rolle, werden jedoch meist rituell reglementiert, Alkohol und Drogenmissbrauch darüber hinaus regelmäßig abgelehnt. Wenn Sie anderslautende, empirische Daten zu Religion-Rauschgiftabhängigkeit haben, sind wir daran sehr interessiert.

    “Denn was ist Religiosität anderes. Die Freude über eine Illusion.”

    Zunächst einmal hat Religiosität nicht nur mit Freude zu tun, sondern oft auch mit Angst, apokalyptischen Naherwartungen, Aufrufen zur Buße etc. Und woher wissen Sie, ob hinter allen religiösen Lehren eine Illusion ist oder nicht? Auch unsere Erkenntnisapparate (Gehirne) sind nur Produkte der Evolution, Erkenntnis – gerade in der Wissenschaft ! – ist immer nur vorläufig. Wir können nicht hinter die Dinge sehen. Da Sie sich in Ihrem Nickname auf Kant berufen (der die Existenz Gottes übrigens angenommen hat), ist Ihnen das sicher geläufig.

    “Die Tora, die Bibel und der Koran dagegen enthalten hunderte Aufforderungen zu und Rechtfertigungen von Gewalt, Völkermord, Fremdenhass, Sklaverei und Folter.”

    Auch hier interessiert wieder nicht Textexegese, sondern vergleichendes Verhalten – gerade auch weil es erstaunlich ist, wieviel unterschiedliche Interpretationen die Menschen aus ihren Heiligen Schriften beziehen. Und die allermeisten Glaubenden z.B. in Europa haben mit Gewalt etc. eben nichts am Hut, dafür spenden sie häufiger, engagieren sich häufiger ehrenamtlich und gründen häufiger Familien. Haben Sie empirische Daten darüber, dass Religiöse in freiheitlichen Gesellschaften grundsätzlich häufiger Gewalt ausüben als Nichtreligiöse? Mir sind keine bekannt.

    “Die Gewalt und der Irrsinn des “Glaubens an und des Verhaltens zu übernatürlichen Akteuren” ist keine Ausnahme. Das sind Millionen von Menschen, die an den Lippen eines Fernsehpredigers hängen, der angeblich mit dem Geist Jesus Christus’ heilen kann. Da sind Millionen Menschen, die einem bestimmten Präsidentschaftskandidaten ihre Stimme geben, weil er gegen Abtreibung und Homosexualität steht und Menschen als spirituelle und moralische Führer bezeichnet, die zur rücksichtslosen Vernichtung eines anderen Glaubens aufrufen – Prediger einer Massenkirche mit Millionen (Gläubigen).”

    Ich gönne Ihnen ja Ihre antiamerikanischen Klischees – auch wenn ich darauf hinweisen mag, dass dieses in Deutschland traditionell mies gemachte Land gerade unter religiösen Vorzeichen seit langem eine freiheitliche Demokratie geblieben ist, während hier in Europa von roten und braunen Sozialisten Abermillionen ermordet wurden. Dass die USA demografisch, wirtschaftlich und militärisch eine mächtigere Nation geworden sind, als ihnen selbst wohl manchmal gut tut, dürfte in der Tat mit der erfolgreichen Kombination von Freiheit und Religiosität zu tun haben. Die hohe Vitalität der US-Gesellschaft einschließlich der hohen Geburtenrate hängt wesentlich mit der starken Religiosität zusammen, die im freiheitlichen Wettbewerb ohne Staatsgeld erwuchs. Wenn Sie auch dazu ein paar Daten haben wollen?
    http://www.chronologs.de/chrono/blog/natur-des-glaubens/grundlagen/2008-06-02/religionsdemografischer-fanpost

    Wie gesagt: Ich will Sie ja gar nicht von Ihren antiamerikanischen Klischees abbringen – nur darauf hinweisen, dass wissenschaftlich orientierte Menschen doch erst einmal versuchen sollten, die Phänomene zu verstehen, bevor sie sie bejubeln oder aburteilen.

    “Die friedliche Opposition war eine erstaunliche Graswurzelbewegung, deren christlicher Anteil von Christen gern deutlich überschätzt wird. Und welche Rolle der Vatikan im Polen spielte ist eine Geschichte, die ihrer Aufarbeitung harrt.”

    In beiden Fällen sammelten sich die “Graswurzelbewegungen” eben interessanterweise um die Kirchen. Und auch die mächtige KP Chinas zittert vor nichts so sehr wie vor Kirchen, Falun Gong und Dalai Lama. Ist doch ein interessantes Phänomen, oder!? 😉

    “Gläubige sind nicht verfolgt worden, weil sie Gläubige waren, sondern weil sie die „Wir schaffen den neuen Menschen“-Spielchen nicht mitspielen wollten. Ein Phänomen übrigens, dass uns von dem “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” schon hinlänglch bekannt ist.”

    Sehe ich ganz genauso! Und daran können Sie also wundervoll ersehen, dass totalitäre Ideologien sowohl unter religiösen wie atheistischen Vorzeichen auftreten können.

    Und wenn wir beide unsere Positionen, so ganz unter uns, vergleichen – so plädiere ich dafür, den Menschen so, wie er nun einmal evolvierte, zu akzeptieren, während Sie von einem neuen, besseren, religionslosen Menschen träumen.

    “Ihr behaupteter Reproduktionvorteil von “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” ist die schiere Quantität. Was Sie nicht bedenken, ist die Qualtität, dieser „Evolution“. Aber das soll zu einem anderen Zeitpunkt diskutiert werden.”

    Au weia. Zunächst einmal behaupte ich nicht nur, sondern liefere dafür auch empirische Belege. Und biologische Evolutionsprozesse verlaufen über den relativen Reproduktionserfolg – das ist der darwinsche Fitnessindikator, nur daran ergibt sich, welche Gene in die kommenden Generationen weiter gegeben werden. Von eugenischen Fantasien, den Menschen zu züchten, halte ich nichts. Wohl nicht zufällig hat ja zuletzt auch wieder Richard Dawkins in diese Richtung geschielt:
    http://religionswissenschaft.twoday.net/stories/4047853/

    “Als in Beispiel für eine freiheitliche Kultur die schon lange und zunehmend atheistisch geprägt ist, möchte ich Ihnen die skandinavischen Regionen vorschlagen.”

    Sind Sie sicher? Dann haben Sie das noch nicht gelesen, oder? http://religionswissenschaft.twoday.net/stories/4189552/

    Auch in den skandinavischen Ländern kehrt die Religiosität längst zurück, neben die schrumpelnden Staatskirchen und alternden, säkularen Milieus treten auch hier hoch verbindliche, bisweilen fundamentalistische Religionsgemeinschaften sowie die Religionen von Zuwanderern. Nein, stabil atheistisch sind auch die skandinavischen Länder beim besten Willen nicht!

    “Ihre „empirischen Daten“, die Sie sich aus irgendwelchen Massenerhebungen zusammenklauben und wild interpretieren, sind mir durchaus liebsam. Ich werde mich dazu auch noch äußern.”

    Da bin ich gespannt. Es sind ja nicht nur meine Daten. Die Zahl der religionsdemografischen Studien Dutzender verschiedener Forscher nimmt sprunghaft zu – mit dem immer gleichen Ergebnis. Ganz abgesehen von den Fallstudien: Oder haben Sie eine Erklärung, die ohne Religion auskommt, für den Kinderreichtum der Amisch, Mormonen, Hutterer, orthodoxen Juden im Vergleich zu ihrer jeweiligen Umgebung? Warum kennt die Geschichte keine einzige säkulare Gemeinschaft, die solchen Reproduktionserfolg auch nur zwei, drei Generationen hindurch vollbracht hätte?

    “Zusammenfassend können wir konstatieren, dass “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” sich glücklicherweise zunehmend selbst diskreditiert. Eigentlich müßten sich rationalistische Naturalisten nur zurücklehnen und abwarten – das Problem erledigt sich wahrscheinlich am Ende von selbst.”

    Auf das gelassene Abwarten könnten wir uns m.E. wirklich einigen! Schließlich will ich Sie von gar nichts überzeugen, sondern lieber wissenschaftlich arbeiten und diskutieren. Und ob es die Religiösen sind, die aussterben… nun, das wird sich ja zeigen, oder!? In den vergangenen Jahrzehntausenden waren sie offensichtlich sehr erfolgreich und die Daten sagen derzeit zumindest, dass sie häufiger “Seid fruchtbar und mehret euch” befolgen… Warten wir es doch einfach ab! 😉

    “In einem sind wir uns allerdings einig, in einer freiheitlichen Gesellschaft zu leben, in der wir durch keinerlei ideologische Zwänge, seien es jüdische, christliche, muslimische, faschistische, kommunistische oder sonstwie diktatorische, gezwungen sind, unsere Meinung zu verheimlichen, ist ein wahres Glück.”

    Ja, da sind wir uns wirklich einig – das ist es! Und etwas anderes wünsche ich nicht. So begrüße ich es sehr, dass die konservative Regierung in Griechenland in diesen Tagen gegen erbitterten Widerstand der Staatskirche endlich die Möglichkeit geschaffen hat, dass sich Schüler vom christlichen Religionsunterricht abmelden. Religionsfreiheit heißt sowohl, sie ausüben wie auch, sich ihr entziehen zu dürfen. Auch Ihr Recht, Atheist zu sein, achte ich also nicht nur, sondern verteidige es aus vollster Überzeugung.

    Mit freundlichen Grüßen

    Michael Blume

  7. sapere Says:

    Lieber Herr Dr. Blume,
    in Ihrer letzten Antwort schreiben Sie:
    „Auch Ihr Recht, Atheist zu sein, achte ich also nicht nur, sondern verteidige es aus vollster Überzeugung.“
    So auch ich. So auch ich Ihr Recht verteidige, Christ zu sein. Ihr Glaube ist Ihre Privatangelegenheit und somit jedes erdenklichen Schutzes würdig.
    Sollten Sie allerdings Ihren Glauben an einen übernatürlichen Mann in die Öffentlichkeit tragen und mit diesem Glauben auch gesellschaftspolitische Handlungen begründen, erzieherischen Einfluss nehmen und diesen wissenschaftlich zur Disposition stellen, müssen Sie natürlich damit rechnen, dass Ihnen der kalte Wind des rationalen Pragmatismus ins Gesicht bläst.
    Aberglaube, also “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren”, in meinem Verständnis, hat in Politik, Gesundheit, Wissenschaft und Bildung nichts zu suchen. Er mag als Folklore in Privathaushalte gehören und Enkeln von Großmütterchen vermittelt werden, wie alle anderen Sagen und Märchen auch, doch spätestens im Schulalter sollten Kinder lernen, was es mit der Welt wirklich auf sich hat. Dazu gehören die Verbrechen der Religionen in Geschichts- und Sozialkundeunterricht und die Entstehung und das Funktionieren von Welt und Mensch in Biologie, Physik und Chemie, also wir und die Welt als OBJEKTE. In den Kunst-, Musik- und Ethikunterricht, sowie in Freizeitgestaltung gehören alle Dinge, die uns als SUBJEKTE ausmachen. Unser Hoffen, Wollen und Sollen.
    Aber auch darüber sind wir uns ja eigentlich einig. Weswegen ich das hier eigentlich so ausführlich schreibe, hat eigentlich nur einen Grund: Die intensive individuelle Vermittlung des Glaubens an übernatürliche Männer durch Autoritäten ist die Ursache für ihre Weiterverbreitung.
    Hielten sich die Religionen an ein selbst auferlegtes Gesetz, Kindern alle religiösen Fragen zunächst vorzuenthalten, so wie bei der Sexualität, würde – allerdings anders als bei der Sexualität – der Glaube an übernatürliche Männer zunehmend aussterben.
    Ich frage mich, wie Sie zu der Überzeugung kommen, dass das Gegenteil der Fall ist, schauen Sie sich doch die Statistiken der Kirchenmitglieder an:


    Warum gibt es so hektische Bestrebungen in Berlin den schulischen Religionsunterricht wieder einzuführen? Warum werden die Kinder nicht einfach in außerschulischen Religionsunterricht geschickt? Weil man für die Vermittlung von Unlogischem und Übernatürlichem die Autorität der Schule braucht.
    Überall dort, wo es keinen Religionsunterricht gibt, wird Religion auch nicht spontan angenommen. Anders übrigens als Musik.
    Sie fragen also was wir diskutieren. Wir diskutieren nature vs. nurture. Die alte Frage: angeboren oder vermittelt. Und natürlich wissen wir, so einfach ist es nicht. Es ist natürlich beides. Doch wie? Hat der Mensch ganz generell die Fähigkeit zur Abstraktion und geht ihm dabei manchmal angesichts gewisser rationaler Grenzen die Phantasie durch, oder gibt es etwa tatsächlich sowas wie Wunder, auch wenn Sie noch niemand je bewiesen hat?
    Wir diskutieren die Nützlichkeit und Richtigkeit des Glaubens, da auch die Menschen, die daran glauben keine verlässliche Begründung dafür geben können, als allein ihre ganz persönliche Überzeugung.
    Und wenn wir die Nützlichkeits- und Richtigkeitsfrage eines Tuns, nämlich des “Glaubens an und Verhaltens zu übernatürlichen Akteuren” stellen, kommen wir leider zu der Erkenntnis, dass die guten Seiten, die schlechten nicht aufwiegen, im Gegenteil. Das mag in Ihrer persönlichen Wahrnehmung anders sein, aber für dieses Problem gibt es ja glücklicherweise die Aufklärung. Der “Glaubens an und Verhaltens zu übernatürlichen Akteuren” führt zur psychischen und physischen Beeinträchtigung von Beteiligten UND Unbeteiligten. Deshalb ist das nicht nur ein etwas skurriles Hobby, an „übernatürliche Akteure“ zu glauben, sondern eine sehr gefährliche Angelegenheit und sollte mit ausreichender Aufklärung verbunden sein.
    Wer wissen möchte, was an diesem “Glaubens an und Verhaltens zu übernatürlichen Akteuren” eigentlich so schlecht ist, der schaue doch gelegentlich auf meinem Blog vorbei, oder hier: http://hpd.de/ oder hier: http://brightsblog.wordpress.com , oder lese ein gutes Buch, wie Christopher Hitchens „Der Herr ist kein Hirte“ oder Richard Dawkins „Der Gotteswahn“.
    Sie fragen mich, ob ich daran interessiert bin, Religiosität auch als Teil der menschlichen Evolutionsgeschichte zu verstehen, oder ob ich mich mit Polemik begnügen will.

    Und ich kann Ihnen sagen, dass ich dies tue (also den ersten Teil des Satzes), doch wähle ich eben andere Beispiele als Sie. Für mich der “Glaube an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” kein vererbliches Merkmal auf das die Evolution hinwirkt, sondern ein Beiprodukt begrenzter, wenn auch in Teilen bemerkenswerter Rationalität, wie der Blinddarm eben, für sich genommen, natürlich ein erstaunliches Stück Natur – für uns gänzlich unnütz, wenn nicht gar schädlich.

    Sie werfen mir Polemik vor, weil ich die Kulturleistung Religion mit der Kulturleistung Rauchgiftsucht vergleiche. Was glauben Sie, wie ich mich fühle, wenn ich als, in Ihrer Definition Nichtreligiöser, höre, dass Religion eine so wichtige Kulturleistung wie Musik und Mathematik ist? Denken Sie nicht, dass ich mich dadurch als kulturloser oder -armer Mensch dargestellt sehe? Unterschiedliche Ansichten führen zu Verletzungen. Die muß man manchmal einfach hinnehmen. Was meinen Sie, wie oft ich mir anhören musste, was ich doch für ein bedauernswertes Wesen bin, weil ich nicht an einen übernatürlichen Mann glaube. Man stumpft irgendwann ab. Das kann ich Ihnen auch empfehlen! Was allerdings nicht abstumpft ist die Angst vor religiös bedingtem Terror. Haben Sie den Karikaturenstreit noch in Erinnerung? Wissen Sie, dass der Kabarettist Bruno Jonas keine Witze über den Islam macht? http://www.netzeitung.de/kultur/1117198.html

    Und ich habe, weil ich das Rauschgiftbeispiel gewählt habe, nicht gemeint, dass Menschen, die an einen übernatürlichen Mann glauben, mehr Rauschgift konsumieren, genausowenig wie sie wohl meinten, dass es unter Menschen die “Glaube an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” zeigen, mehr Musiker oder Mathematiker zu finden sind. Obwohl, wahrscheinlich glauben Sie das wirklich?

    Und ja natürlich ist “Glaube an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” auch mit Angst verbunden, so wie Rauchgiftgenuss auch.

    Sie fragen mich, woher ich weiß, dass die religiösen Lehren nur Illusion sind? Weil alle bisherige Evidenz v.a. auch der psychologischen Forschung dafür spricht. Wir können natürlich nicht „hinter die Dinge sehen“ aber wir können so weit gucken wie wir können, und wir sind – Stück für Stück – ziemlich weit gekommen und haben den Rückzugsgott in immer abstrusere Ecken getrieben. Ist Ihnen denn schon mal aufgefallen, dass dieser übernatürliche Mann immer dann aus der Mottenkiste geholt wird, wenn man keine gerade keine naturwissenschaftliche Erklärung zur Hand hat? Wie wäre es, an dieser Stelle einfach mal die Klappe zu halten und weiterzuforschen?

    Was machen Sie, wenn die Naturwissenschaften auch den Ursprung des Lebens nahezu restlos aufgeklärt haben? Wird dann triumphierend die Frage gestellt, wie denn die Elemente, aus denen das Leben entstand entstanden sind? Und wenn man das erklärt hat … usw.?

    Kant hat übrigens einen objektiven Gott verneint, einen subjektiven aber für notwenig gehalten und würde nicht soweit gehen, einen subjektiven Gott für notwendig zu betrachten, da war Kant noch zu sehr Kind seiner Zeit.

    Sie sprechen in Ihrer letzten Antwort davon, dass die Textexegesen der unterschiedlichen Gewaltaufforderungen in den „heiligen Büchern“ der monotheistischen Religionen, völlig unerheblich sei, dass allein das Verhalten zähle. Dann verstehe ich nicht, was dann z.B. Ehrenamt mit Religiosität zu tun haben soll? Und das hat es ja natürlich auch nicht, sonst dürfte es so etwas wie Engagement in Vereinen, Gruppen und Organisationen in Ostdeutschland nämlich gar nicht geben.

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    http://www.stk.brandenburg.de/media/lbm1.a.1173.de/studie_ehrenamt.pdf

    Ich weiß, Sie haben da wieder ganz andere Zahlen. Immer her damit!

    Sie fragen, ob ich Daten darüber habe, dass religiöse Menschen in freiheitlichen Gesellschaften häufiger Gewalt ausüben als nichtreligiöse.
    Sie kennen ja sicher die Studie von Gregory Paul im „Journal of Religion and Society“. Wie schrieb es die TIMES:
    “RELIGIOUS belief can cause damage to a society, contributing towards high murder rates, abortion, sexual promiscuity and suicide, according to research published today. According to the study, belief in and worship of God are not only unnecessary for a healthy society but may actually contribute to social problems. In general, higher rates of belief in and worship of a creator correlate with higher rates of homicide, juvenile and early adult mortality, STD infection rates, teen pregnancy and abortion in the prosperous democracies. The United States is almost always the most dysfunctional of the developing democracies, sometimes spectacularly so.”
    http://www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/article571206.ece
    Man könnte also kurz schließen, Religiosität korreliert positiv mit Kriminalität und asozialem Verhalten.
    Was sie also wieder als meine „antiamerikanischen Klischees“ bezeichnen würden, wenn ich z.B. von Fernsehpredigern schreibe, die Millionen Menschen ihre angeblichen Geistheilungskräfte vorgaukeln, sind offenbar Fakten. Schauen Sie doch auch mal hier:
    http://blog.dignitatis.com/wordpress/?p=301

    Sie scheinen es übrigens immer noch nicht verstanden zu haben, dass die vereinfachenden Vorstellungen von Richtig und Falsch, sowohl in Kommunismus, wie Faschismus als auch Monotheismus zu den größten Verbrechen führten. Sie sind der Ansicht, dass die gewaltsamen und menschenverachtenden Folgen von Religion nicht in ihren Wurzeln liegen, Sie glauben, dass das bedauerliche Mißverständnisse religiöser Überzeugungen sind.

    Nein, lieber Herr Dr. Blume, das sind sie nicht. So wie Nationalsozialismus und Kommunismus im Kern menschenverachtende Begründungen haben, so haben dies auch die monotheistischen Religionen.

    Und auch wenn es immer wieder Menschen gibt, die gebetsmühlenartig behaupten, dass das Missverständnisse sind, so gibt es auch immer wieder Leute, die sich davon nicht abhalten lassen, zu morden, zu plündern, zu versklaven und zu verachten.

    Weil ich schrieb, “Gläubige sind nicht verfolgt worden, weil sie Gläubige waren, sondern weil sie die „Wir schaffen den neuen Menschen“-Spielchen nicht mitspielen wollten. Ein Phänomen übrigens, dass uns von dem “Glauben an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” schon hinlänglch bekannt ist.”

    Antworteten Sie:

    „Sehe ich ganz genauso! Und daran können Sie also wundervoll ersehen, dass totalitäre Ideologien sowohl unter religiösen wie atheistischen Vorzeichen auftreten können.“

    Nein, nein. Nicht Vorzeichen: Kern! Der Religionen natürlich. Der Kern des Atheismus ist die Gottlosigkeit. Das verführt wohl kaum zum Töten.

    Jaja, Kommunisten sind Atheisten. Ich weiß schon. Ihr Argument ist, dass Kommunisten Millionen Menschen umgebracht haben, nicht weil sie Kommunisten waren, sondern weil sie Atheisten waren, weil ihnen ihr Atheismus befohlen hat, andere zu töten. Weil in ihren heiligen Schriften steht, dass Menschen, die “Glaubens an und Verhaltens zu übernatürlichen Akteuren” zeigen, umzubringen sind.

    Sie sehen schon, da gibt es einige Unterschiede in unseren Gewichtungen. Auch darin, wie wir z.B. über Richard Dawkins denken.

    Da Sie das Thema Eugenik ansprechen: Euthanasie und Kirche, ein spannendes Kapitel, lesen Sie mal rein:

    http://www.theologe.de/euthanasie.htm

    Zum Thema Skandinavien und Religion haben Sie mir einen Link empfohlen, der mir nicht viel sagt. Wollten Sie mir zeigen, dass auch Schweden nichts gegen Religionsfreiheit haben?

    Was aber das generelle Nachlassen der Religiosität in Europa betrifft, schauen Sie doch bitte hier:

    http://en.wikipedia.org/wiki/Religion_in_Europe

    Wie kann es sein, dass Religiosität an der einen Stelle dramatisch nachlässt, aber an der anderen zunimmt, wenn sie doch vererbt wird. Dann müssten sich doch alle Atheisten ganz einfach wegmendeln? Vor allem in Europa. Haben Sie mal ernsthaft in Betracht gezogen, dass es sich bei Religiosität um ein REIN kulturelles Phänomen handelt, dass nicht vererbt wird? Genauso wenig wie das Telefonieren oder Brezelbacken?

  8. Kolumnistenschwein Says:

    Berufskrankeit bei Pfarrern: Sie haben’s mit dem Kreuz.

    Ansonsten: Als Brief wäre dieser Beitrag jeden Cent Porto wert.

  9. Michael Blume Says:

    Ein schöner, aber langer Text…
    Lieber sapere aude,

    danke für Ihren langen Text, auf den ich beim besten Willen nur noch in Auszügen eingehen kann:

    1. Im freiheitlichen Wettbewerb der Religionen verlieren die Mainstream-Religionen häufig an Mitgliedern zugunsten kleiner, aufstrebender Wettbewerber. Das ist z.B. auch in den USA der Fall – und natürlich auch in Deutschland. Dass die Zahl der Mitglieder der Großkirchen in Deutschland weiter zurück geht, belegt doch zunächst einmal nur, dass sie nicht mehr “die” religiösen Anbieter sind. Wir haben blühende Freikirchen, Synagogen, Moscheen, buddhistische Zentren etc. pp. In Langzeitstudien werden Säkularisierungsprozesse zunehmend als wellenförmig erkannt – auf Zeiten religiöser Schrumpfung folgen Wellen religiöser Erweckungsbewegungen. Der reproduktive Vorteil, mein Schwerpunkt und entscheidender Faktor der Evolution, bleibt nach heutigem Kenntnisstand unabhängig davon wirksam.

    “Wir diskutieren die Nützlichkeit und Richtigkeit des Glaubens, da auch die Menschen, die daran glauben keine verlässliche Begründung dafür geben können, als allein ihre ganz persönliche Überzeugung.”

    Verstehen Sie doch: Für die “Richtigkeit” fühle ich mich als Religionswissenschaftler schlicht nicht zuständig – da fragen Sie am Besten den Philosophen oder Theologen Ihres Vertrauens. Mich interessiert die Evolution der Religiosität, ob dahinter eine Gottheit steht oder nicht, ist empirisch nicht klärbar, ist Glaubenssache.

    “Für mich der “Glaube an und Verhalten zu übernatürlichen Akteuren” kein vererbliches Merkmal auf das die Evolution hinwirkt, sondern ein Beiprodukt begrenzter, wenn auch in Teilen bemerkenswerter Rationalität, wie der Blinddarm eben, für sich genommen, natürlich ein erstaunliches Stück Natur – für uns gänzlich unnütz, wenn nicht gar schädlich.”

    Tja, und das ist eben der Unterschied: Rein evolutionsbiologisch gesehen bemessen sich Nutzen und Schaden nicht an unseren Geschmacksurteilen, sondern am relativen Reproduktionserfolg. Und die Daten sind nun einmal eindeutig… Dass Religiosität einmal als Beiprodukt anderer Strukturen gestartet ist – geschenkt, klar! Das ist der evolutionäre Normalfall, man nennt dies Exaptation.

    “Was glauben Sie, wie ich mich fühle, wenn ich als, in Ihrer Definition Nichtreligiöser, höre, dass Religion eine so wichtige Kulturleistung wie Musik und Mathematik ist? Denken Sie nicht, dass ich mich dadurch als kulturloser oder -armer Mensch dargestellt sehe?”

    Das würde mir Leid tun – denn, wie oben geschrieben, Religion ist ein Teil menschlicher Kultur, z.B. Musik oder Sport sind andere. Sie sind nichtreligiös, ich bin recht unmusikalisch und unsportlich. Macht das einen von uns kulturlos? Also, ich finde, dass nicht.

    “Ist Ihnen denn schon mal aufgefallen, dass dieser übernatürliche Mann immer dann aus der Mottenkiste geholt wird, wenn man keine gerade keine naturwissenschaftliche Erklärung zur Hand hat?”

    Ja, ich nenne das Lückenbüßer-Gott und halte es für wissenschaftlich und theologisch sehr fragwürdig. Da machen religiöse Menschen den gleichen Kategorienfehler wie Sie: zu meinen, man könnte Gott auf dem kruden Stand heutigen Wissens ernsthaft empirisch verorten. Genau dagegen wendet sich beispielsweise auch die oben zitierte, jüdische Stimme. Ein empirisch bewiesener Gott kann kaum Gott sein.

    Zwei Kleinigkeiten noch: Im Link zu dem Schweden-Artikel wollte ich auf diesen Bericht hinweisen, hier direkt:
    http://online.wsj.com/article/SB118434936941966055.html?mod=googlenews_wsj

    Und den Zusammenhang zwischen Ehrenamt und Religiosität zeigen sogar Ihre Daten: Im Westen liegt die Ehrenamtsquote um 10% (!) höher und in spezialisierten Auswertungen ist der Zusammenhang noch deutlicher zu sehen. Natürlich engagieren sich aber auch Nichtreligiöse, wie sie ja auch Kinder kriegen (und es umgekehrt nichtengagierte und kinderlose Religiöse gibt), aber der wechselseitige Zusammenhang ist eben da. Sehr schön zu sehen übrigens auch an der Spendenbeteiligung, hier getrennt nach Religiösen und Konfessionslosen in West- und Ostdeutschland ausgewiesen:
    http://religionswissenschaft.twoday.net/stories/4922836/

    “Wie wäre es, an dieser Stelle einfach mal die Klappe zu halten und weiterzuforschen?”

    Da haben Sie wohl Recht – ich sollte jetzt lieber weiter forschen anstatt mich zu verzetteln. Mit diesem “schönen Schlusswort” von Ihnen an mich betrachte ich diese Debatte gerne als beendet und forsche jetzt lieber weiter.
    😉

    Mit herzlichem Dank für die muntere Diskussion!

    Michael Blume

  10. sapere Says:

    Die Antwort darauf findet sich hier:

    http://blog.dignitatis.com/wordpress/?p=320

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