Vertrauen, Liebe, Hoffnung und Barmherzigkeit
Oktober 22nd, 2010
In vielen Diskussionen mit Christen stelle ich fest, dass diese der Überzeugung sind, Atheisten seien kalte, emotionslose Technokraten und pragmatische Materialisten, die außerdem als unverbesserliche Nihilisten jede Hoffnung aufgegeben haben und der Welt und ihren Mitlebewesen keinerlei Bedeutung beimessen und sie stattdessen entweder als nützliche oder unnütze Objekte betrachten und entsprechend behandeln.
Atheisten gelten als abgeklärt, rücksichtslos und manipulativ. Mitgefühl, Kreativität oder soziale Kompetenzen werden ihnen ab- oder nur in Ausnahmefällen zugesprochen. Und tatsächlich, unter Atheisten gibt es solche Exemplare – so wie es sie unter Nichtatheisten natürlich auch gibt.
Das Erschreckende aber ist, dass Atheisten dieses stereotype Bild von sich in manchen Fällen sogar bewußt kultivieren und manchmal sanktionieren. Zeigt sich ein Atheist als allzu verträumt und versponnen, emotional oder optimistisch, muss er mit hochgezogenen Augenbrauen rechnen.
Noch viel merkwürdiger ist allerdings die Reaktion von Christen auf die Verwendung lebensphilosophischen Vokabulars durch Atheisten. Begriffe wie Liebe und Vergebung oder Mißgunst, Stolz und Hass, Trauer und Einsamkeit scheinen durch Religionen monopolisiert zu sein. Reagieren doch Theisten nicht selten mit großem Erstaunen auf die Verwendung solcher Begriffe und unterstellen dem atheistischen Autor heimliche Religiosität.
Ein Mittel, sich eine unangenehme und gefährliche Weltanschauung vom Leib zu halten, ist die Dehumanisierung ihrer Vertreter. Atheisten wird die Emotionalität und Empfindsamkeit, sowie eine selbstlose und opferbereite Moral und Ethik schlicht abgesprochen. Begriffe wie Vertrauen, Liebe, Hoffnung und Barmherzigkeit gelten als unvereinbar mit dem Atheismus. Christen wissen dabei am besten, was man als Atheist sein muss und was nicht – ein mitfühlender oder sentimentaler Mensch jedenfalls nicht.
Kann man dem Christen aber glaubhaft machen, dass man Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe praktiziert, wird man für das Christentum zwangsvereinnahmt. Die Ursache für die Wertschätzung solcher Einstellungen wird in einer christlichen Erziehung oder wenigstens einer grundsätzlich christlich-abendländischen Kultur vermutet – selbst wenn man im atheistischsten Flecken der Erde aufwuchs.
Deshalb will ich es hier ein für alle Mal sagen: Ich bin hoffnungslos sentimental, emotional und sterbe vor Mitgefühl. Ich habe (soweit ich mich bewußt erinnern kann) noch nie einen Menschen oder Tier geschlagen und so vielen es ging geholfen. Ich bin der Überzeugung, dass die Welt und das Leben sinnvoll sind und ich lebe in Hoffnung auf alles, was kommt. Ich empfinde Liebe und Vertrauen und bin bereit zur Vergebung – was mir leicht fällt, weil ich ein schlechtes Gedächtnis habe. Ich halte Schwachheit und Armut für eine Tugend und sehne den Tag herbei, an dem jede Art von Herrschaft abgeschafft ist.
Und ich bin Atheist. Mindestens in der dritten Generation. Ich bin in einem atheistischen Land aufgewachsen und habe bis zu meinem 14. Lebensjahr noch nie von einem “Gott” gehört. Danach habe ich diese Hypothese über viele Jahre intensiv überdacht … und – bis auf weiteres – verworfen.
Ich bin Skeptiker – auch mir und meinen Überzeugungen gegenüber. Und ich bin unendlich neugierig. Ich diskutiere mit Christen, weil ich nicht verstehen kann, wie man einer totalitären Ideologie anhängen muss, wenn all das, was man am Christentum so richtig und wichtig findet, auch zu haben ist, ohne gleichzeitig die häßliche Kröte “selbstwidersprüchliche Absurdität, totalitärer Personenkult und Mitverantwortung für 2000 Jahre monströse Gewalt” schlucken zu müssen.
Oktober 22nd, 2010 at 22:07
moin moin!
Naja dann bin ich wohl ein “anderer” Christ 😉
Vorurteile wie oben aufgeführt habe ich nicht gegenüber Atheisten. Denkende Atheisten sind mir persönlich auch lieber als reine Tradition-Christen. Mit zweiter Gruppe kann man nicht Diskutieren, mit einen denkenden Atheisten kann man aber (wenn sie mich nicht durch Vorurteile ihrerseits ausgrenzen /abwerten) gut diskutieren und ich lerne davon oft viel dazu.
Was du zum Schluss schreibst gefällt mir auch gut, und es freut mich für dich. Nur eines muss ich als Christ anmerken / kritisieren.
Die “hässliche Kröte” bezieht sich nur auf den weltlichen Teil-Aspekt des Christentums, mit der Hauptaussage bzw warum ich eben überzeugt bin (glaube) ohne Jesus weniger zu haben.
Auf deinen Artikel bezogen ist dieser Jesus-Mehrwert für mich eben ein Fundament (Grundlage) für deine aufgeführten Punkte zu haben und ein Vorbild. Das nicht Christen aber die selben Moralitäten / Ansprüche haben ohne Gott zu kennen ist auch kein Problem für mich da biblisch. 🙂
Beste Grüße und Wünsche!
PS: Da ich hier schon länger mitlese bin ich über die gerade zu freundliche Ausdrucksweise positiv überrascht. Oder klebe ich jetzt am Honeypot und …
Oktober 23rd, 2010 at 10:52
Daß Christen dazu neigen, Atheisten die menschlichen Grundeigenschaften abzusprechen, ist ganz normaler, wohlfeiler Separatismus. Das wird von anderen Glaubenssystemen (Auch weltlichen! Man denke nur an die Einstellung zum Kommunismus in den USA.) nicht anders gehandhabt.
Es dient zur Schaffung eines “wir/die” Gefühls, zur Bestätigung a) der eigenen moralischen Überlegenheit und b) der wunderbar praktischen Illusion, daß “menschliche Werte” ihre Wurzeln im eigenen Denkmodell hätten.
Dabei macht das Christentum (oder jede andere große Religion) nur einen verschwindend winzigen Teil der Entwicklung des Menschen aus. Eine Entwicklung, die ohne menschliche Eigenschaften (die im Wesentlichen alle in Intelligenz und der Fähigkeit zur Empathie gründen) vollkommen undenkbar gewesen wäre. Wärme, Liebe, Nächstenliebe, Mitleid, Neugier, Gewissen sind eingebaut, nicht erlernt. Religion hat nichts damit zu tun. Sie kann darauf aufbauen, aber sie nicht begründen.
Oktober 23rd, 2010 at 15:28
Schau mal an.
Ich bin da ganz anders. Und Nächstenliebe halte ich, konsequent gedacht, für absurdes Konzept.
Trotzdem schöner Beitrag.
Oktober 23rd, 2010 at 21:29
@sindemal:
Wieso, ich bin doch immer freundlich? 🙄
Welcher Teil des “Christentums” ist denn nicht “weltlich”?
@Tomalak:
Full ack. Religion ist Spiegel unserer Werte – nicht ihre Quelle. Das wird leider oft und nicht selten mit tödlichem Ausgang verwechselt.
@Muriel:
Nächstenliebe verstanden als brennende Liebe allen Menschen gegenüber ist natürlich absurd. Gemeint war in diesem Zusammenhang Altruismus. Hilfe aus Mitgefühl.
Und ich würde sogar noch weiter gehen. So weit wie Monseigneur Myriel aus Hugos “Die Elenden” zum Beispiel.
Dank für den Zuspruch an alle!
Oktober 24th, 2010 at 14:33
>Welcher Teil des “Christentums” ist denn nicht >“weltlich”?
Kurz gesagt, der eigentliche (persönliche) Teil. Also wie ich als Christ in der Nachfolge Jesus lebe.
Weltlich sind eben die für dritte sichtbaren Formen, u.a. die Religiosität oder wie ich mich als Christ in einer säkularen Umgebung gebe und bewege.
Siehe auch “Zwei-Reiche-Lehre”
http://de.wikipedia.org/wiki/Zwei-Reiche-Lehre
Oktober 24th, 2010 at 22:47
Schöner ehrlicher Beitrag Sapere! – auch wenn der letzte Absatz natürlich für meinen Geschmack wieder etwas zu provozierend rüberkommt.
Besonders gefallen hat mir deine Aussage, du wärst “bereit zur Vergebung – was [dir] leicht fällt, weil [du] ein schlechtes Gedächtnis [hast]”. *g* Das geht mir nämlich immer ganz genau so. Manchmal nehme ich mir vor, länger auf jemanden sauer zu sein (weil der Fiesling es echt verdient hat) – und am nächsten Tag hab ich diesen Vorsatz einfach vergessen! ^^